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Silva


Ein vertrauter Platz im Gespensterwald


Silvas Gedanken

 

 

Es ist ungerecht, so aus dem Leben gerissen zu werden. Vor allem, wenn man gerade einen Neuanfang wagt. Ein solches Ereignis ist dermaßen verblüffend, dass man sogar dem liebevollen Licht widersteht, das sich einem in diesem Augenblick zuwendet. Es ist sonnenklar, dass man nur weiterzugehen braucht - doch es erscheint einem unmöglich. Die Seele hängt am Dasein. Das dringliche Gefühl, dass nicht alles erledigt ist, das Leben nicht am Ende steht, hält einen zurück. Man bleibt in einer Zwischenwelt gefangen. Die Hoffnung auf eine Chance, das Vorhaben doch noch zu beenden und in die Realität zurückzukehren, hindert einen daran, fortzuschreiten. Und urplötzlich steckt man zwischen den Welten fest, ist weder in der einen noch in der anderen handlungsfähig.

Das Café am Meer

„Schau nur, er sitzt schon wieder dort!“ Edgars weiße Haare stehen zu Berge. Der Ostseewind plustert sie auf und zerrt an ihnen herum, als gehören sie zu einem Wischmopp. Er starrt aus sicherer Entfernung hinter dem Mäuerchen auf der Terrasse durch die Fensterscheibe des Cafés am Meer, seine Augen fixieren einen Herrn, der an einer Kaffeetasse nippt.

„Wir können doch trotzdem hineingehen?“ Henriette, seine Gemahlin, schaut ihn auffordernd an. „Die weiße Frau aus meinem Buch hat dort zwar immer gesessen, aber ich nehme auch mit einem anderen Platz vorlieb.“ Sie zieht die Kapuze ihres Regencapes enger zusammen, um ihre Dauerwelle vor den heftigen Böen zu schützen. „Mir ist kalt und es fängt bestimmt gleich an zu regnen. Außerdem habe ich Hunger“, murrt sie.

Edgar verzieht das Gesicht. „Aber dann sehen wir heute wieder nicht aufs Meer hinunter. Und du immer mit deiner weißen Frau.“

„Vielleicht ist an den anderen Tischen am Fenster noch ein Platz frei. Wir müssen ja nicht unbedingt dort sitzen, wo Mister Rollkragenpulli gerade seinen Kaffee schlürft.“

„Was hat der Kerl hier überhaupt zu suchen? Soll er doch zum Italiener gehen. Da passt er besser hin. Der schaut genauso finster aus wie dieser Giovanni, der uns letztes Mal ewig keine Nachspeise gebracht hat. Mafioso. Der kommt bestimmt auch aus dem Süden“, brummelt Edgar und krault seinen massigen Bauchansatz.

„Meiner Käsesahne, die ich gerne essen würde, ist es schnuppe, ob er jetzt wie wir aus Bayern stammt oder aus Berlin, oder ob er hier in Nienhagen überwintert oder nur einen Ausflug macht. Die schmeckt zum Glück immer gleich. Und jetzt lass uns endlich reingehen, oder du musst mir einen weiteren Mantel kaufen.“

Text von Sina Land

Cover von Sina Land

Auszug aus dem Buch "Tschup - Der Schnullersammler"